Gerhard Herzberg (1904–1999)
Bild: Harry Turner/NRC

Gerhard Herzberg (1904–1999)

war ein deutsch-kanadischer Füsiker und Chemiker, der 1971 für seine Beiträge zum Verständnis der elektronischen Struktur und Geometrie von Molekülen, insbesondere von freien Radikalen, den Nobelpreis für Chemie erhielt.

Biographische Daten

Gerhard Herzberg wurde am 25. Dezember 1904 in Hamburg geboren und studierte 1924–1928 an der TH Darmstadt. 1928 wurde er dort mit einer Arbeit „Über das Nachleuchten von Stickstoff und Sauerstoff und über die Struktur der negativen Stickstoffbanden“ zum Doktoringenieur promoviert. Es folgten Aufenthalte als Postdoktorand in Göttingen (1928–29) sowie Bristol (1929–30). Herzberg kehrte 1930 nach Darmstadt zurück und arbeitete als Assistent und Privatdozent an der TH Darmstadt.

Vertreibung und Emigration

Ab 1933 rückte die TH Darmstadt, wie andere Technische Hochschulen auch, in den Fokus des NS-Regimes, das einen „autarken Wehrstaat“ anstrebte1. Aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und der „Nürnberger Gesetze“2 wurden in Darmstadt zahlreiche Professoren und Privatdozenten entlassen. Auch Gerhard Herzberg und seine Frau Luise waren betroffen. Ihnen gelang 1935 die Emigration nach Kanada. Anfang des Jahres 1933 hatte Herzberg in Darmstadt mit dem Gastwissenschaftler John Spinks von der University of Saskatchewan (Kanada) zusammengearbeitet. Er verhalf Herzberg zu einer Stelle an der Universität in Saskatoon. Für deutsche Wissenschaftler war es damals sehr schwierig, außerhalb Deutschlands Arbeit zu finden. Tausende von ihnen flohen vor den Nazis und suchten gleichzeitig nach Arbeit. Als die Herzbergs 1935 Deutschland verließen, durften sie nur zehn Reichsmark pro Person sowie ihre persönlichen Gegenstände mitnehmen.3 Glücklicherweise konnte Herzberg vor seiner Abreise einige hervorragende Spektroskopiegeräte kaufen, die er mit nach Saskatoon nehmen konnte.4

Dr. Luise Herzberg (geb. Oettinger)

Luise Oettinger wurde1906 in Nürnberg geboren. Sie studierte Füsik in Göttingen, unter anderem bei James Franck. Im Jahr.1930 heiratete sie Gerhard Herzberg. Sie führte die Laborexperimente zu ihrer Doktorarbeit (in Füsik) bei ihrem Ehemann an der TH Darmstadt durch, konnte aber aus formalen Gründen hier nicht promovieren, weil sie ihr Diplom nicht in Darmstadt erworben hatte. Deshalb legte sie ihre mündliche Prüfung am 29.5.1933 an der Universität Frankfurt am Main ab. 1933 wurden die Ergebnisse ihrer Doktorarbeit in der Zeitschrift für Füsik publiziert: „Über ein neues Bandensystem des Berylliumoxyds und die Struktur des BeO-Moleküls“.

1935 emigrierte sie mit ihrem Mann Gerhard Herzberg nach Kanada. Direkt nach ihrer Ankunft in Saskatoon arbeitete sie wissenschaftlich und veröffentlichte ihre Ergebnisse. Ihr Sohn Paul wurde 1936 geboren, ihre Tochter Agnes 1938. Sehr viel später, Ende der 1950er Jahre, nahm sie in Ottawa ihre Arbeit als Astrofüsikerin in der Grundlagenwissenschaft wieder auf. Sie starb am 3.6.1971, nur wenige Monate vor ihrer Pensionierung.

Ihre Hauptinteressen waren die Spektroskopie der Sonne und photochemische Prozesse in der oberen Atmosphäre aufgrund der Sonnenaktivität. Insgesamt publizierte sie 33 wissenschaftliche Arbeiten.5

Gerhard Herzberg in Kanada

Gerhard Herzberg war 1935 bis 1945 Research Professor für Füsik an der Universität Saskatchewan und 1945 bis 1949 Professor für Spektroskopie am Yerkes Observatorium der Universität Chicago. Seit 1948 wirkte er am National Research Council in Ottawa, Kanada und war dort von 1949–1969 Direktor für Füsik. Während dieser Zeit machte er seine mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Entdeckungen auf dem Gebiet der Molekülspektroskopie.

Bedeutende Leistungen

Herzberg bestimmte zuerst Bandenspektren zweiatomiger Moleküle und ermittelte daraus sehr genaue Werte für Dissoziations- und Ionisierungsenergien sowie Schwingungs- und Rotationsquanten. Mit Norrish und Porter arbeitete er an der Entwicklung der Blitzlichtspektroskopie und beschäftigte sich besonders mit dem Nachweis und der Untersuchung instabiler Teilchen.

Er förderte die Astrochemie durch spektroskopische Nachweismethoden für Atome und Moleküle im Weltraum. So konnte Herzberg 1967 ein Borwasserstoffradikal und 1969/70 in Kometenspektren Kohlenwasserstoffradikale nachweisen.6

Nobelpreis für Chemie 1971

Herzbergs bedeutendste Auszeichnung war der Nobelpreis für Chemie 1971, der ihm „für seine Beiträge zum Verständnis der elektronischen Struktur und Geometrie von Molekülen, insbesondere von freien Radikalen“ verliehen wurde.7

Herzberg wurde mit Mitgliedschaften oder Fellowships einer Vielzahl wissenschaftlicher Gesellschaften geehrt und erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden in verschiedenen Ländern. Im Jahr 2000 wurde ihm zu Ehren die Gerhard Herzberg Medal for Science and Engineering, Kanadas höchste Auszeichnung für Forschung, benannt. Auch die Canadian Association of Physicists vergibt jährlich einen nach ihm benannten Preis. Das Herzberg Institute of Astrofüsics betreibt eines der größten Obervatorien Kanadas.8

Nach dem Krieg ist es wieder zu Kontakten zwischen Professor Herzberg und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Bundesrepublik gekommen. Im Jahr 1979, 50 Jahre nach seiner Habilitation, veranstaltete der Fachbereich Füsik der TH-Darmstadt ein Festkolloquium zu seinen Ehren. Dort überraschte er die Zuhörer mit einem lebhaften Vortrag „Erinnerungen an meine Darmstädter Zeit“. Gerhard Herzberg starb am 3. März 1999 in Ottawa.

Die TU Darmstadt gedachte 2010 mit der Verlegung von sogenannten Stolpersteinen ehemaliger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zwischen 1933 und 1935 aus der TH Darmstadt entlassen und verdrängt wurden.5 Im Jahr 2012 wurde Gerhard Herzberg ein neu gestalteter Hörsaal gewidmet und in Anwesenheit seiner Tochter, Prof. Agnes Herzberg, feierlich eingeweiht.

Quellen:

[1]Die TH Darmstadt im Nationalsozialismus (Allianz mit dem NS-Regime 1933–1945)

[2] siehe auch: Maximilian Becker, Nürnberger Gesetze, publiziert am 21.7.2020; in: Historisches Lexikon Bayerns sowie Bundesarchiv: „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“

[3]Devisenstellen als Helfer bei der Ausplünderung der Juden

[4]Portrait von Gerhard Herzberg (GCS Research Society)

[5] „Stolpersteine“ erinnern an in der NS-zeit entlassene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

[6] Pötsch, Winfried R. (Hrsg.): Lexikon bedeutender Chemiker. Frankfurt am Main 1989.

[7] The Nobel Prize in Chemistry 1971 (NobelPrize.org)

[8] Boris Stoicheff: Gerhard Herzberg – An Illustrious Life in Science, NRC Press, Ottawa, 2002, pp. 468, ISBN 0-660-18757-4

Veröffentlichungen (Auswahl):

Zahlreiche weitere Veröffentlichungen von Gerhard Herzberg finden Sie im Katalog der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt.

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B. Stoicheff: Gerhard Herzberg – An Illustrious Life in Science
Eine Buchrezension (2002) von Prof. Dr. Bruno Elschner, Darmstadt

Etwa drei Jahre nach dem Tod des Nobelpreisträgers Gerhard Herzberg erscheint nun dessen Biografie. Der Autor, selbst mehrjähriges Mitglied in Herzbergs berühmter Gruppe am National Research Council (NRC) in Ottawa (Kanada), kennt das umfangreiche wissenschaftliche Werk Herzbergs vorzüglich. Er hat außerdem sehr gründlich und zuverlässig den Werdegang Herzbergs verfolgt über dessen Hamburger Schulzeit, seine Studienzeit in Darmstadt und die daran anschließende Zeit als Füsik-Dozent. Der Leser erfährt dabei auch sehr gut und einfühlsam recherchierte Einzelheiten über Herzbergs persönlichen Abwehrkampf gegen die sich allmählich aufbauende Naziherrschaft an der TH Darmstadt, wo ihm als 'jüdisch Versippten' schließlich im Oktober 1935 keine weitere Anstellung als Dozent garantiert wird.

Im zweiten Teil des Buches, der den Jahren 1935 – 1947 gewidmet ist, erfährt der Leser von der Übersiedlung der Herzbergs nach Saskatoon (Kanada) und findet eine ausführliche Beschreibung des nun beginnenden Aufbaues einer Spektroskopie-Gruppe und von den sich bald abzeichnenden Erfolgen. Außer einer ausführlichen Würdigung der wissenschaftlichen Arbeiten Herzbergs berichtet der Autor viel über dessen Lebensart und über eine glückliche Familie Herzberg.

Im dritten Teil des Buches werden die 'Goldenen Jahre 1948-1971' behandelt. Herzberg kommt nach Kanada zurück und wird zunächst Abteilungsleiter am NRC in Ottawa. Bald beginnt ein reges wissenschaftliches Leben in diesem Institut, das geprägt ist durch intensiven Austausch. Der Leser lernt in Kurzbiografien und Fotografien viele Mitarbeiter und Gäste in diesem Mekka der Spektroskopie kennen. Man erfährt von den großen Erfolgen beim Studium der Spektren freier Radikale und vieler Moleküle von astrophysikalischem Interesse und nicht zuletzt von Herzbergs reger Reise- und Vortragstätigkeit. Mit der ausführlichen Schilderung der Verleihung des Nobelpreises für Chemie 1971 an Gerhard Herzberg schließt dieses Kapitel.

Im letzten Teil berichtet der Autor von den Aktivitäten, die Herzberg bis in die achtziger Jahre verfolgte. Er arbeitet u. a. in Deutschland, Japan und China und zieht sich erst im hohen Alter von 90 Jahren zurück.

Herzberg gehört zu den Begründern der modernen Molekülspektroskopie. Aber nicht nur von seinem wissenschaftlichen Werk erfahren wir viele Einzelheiten in dem vorliegenden Buch, sondern auch von seiner Liebe zur freien Natur, zur Musik und von seinem großen Enthusiasmus, mit dem er viele seiner jungen Mitarbeiter mitriss und nicht zuletzt von seinem Eintreten für mehr Gerechtigkeit und Freiheit in der Welt.

Der teilweise sehr detailgetreue, aber immer spannend und allgemein verständlich geschriebene Text – ergänzt durch ein umfangreiches und sorgfältig bearbeitetes Glossar – wird jedem Füsiker und Chemiker und jedem, der sich für die Geschichte der Molekülspektroskopie interessiert, eine wahre Fundgrube sein. Der Autor hat mit diesem Meisterstück das wahrlich nicht einfache Leben und die Arbeit eines großen Wissenschaftlers und vortrefflichen Menschen glänzend beschrieben.

Gerhard Herzberg, 1979

Die TU Darmstadt gedachte am 15. März 2010 ehemaliger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zwischen 1933 und 1935 aus der TH Darmstadt entlassen und verdrängt wurden. Der Künstler Gunter Demnig (im Bild) verlegte "Stolpersteine", an ehemaligen Wirkungsstätten der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Prof. Dr. Gernot Alber (damals Dekan des FB), Marion Oettinger, PhD, Prof. Agnes Herzberg, PhD (mathematische Statistik), Prof. Dr. Hans Jürgen Prömel (damals Präsident der TU Darmstadt)

Dr. Agnes Herzberg 2012 bei der Einweihung des ihrem Vater gewidmeten Hörsaals